Ein interessanter Neuzuwachs im Grünen Archiv ist die Presseunterlage zum Jubiläum „Ein Jahr Grüne in der Wiener Bezirksvertretung“ (1988). Aus jedem Bezirk kam ein Bericht – teilweise einfach die grünen Anträge aus dem ersten Jahr, teilweise aber auch längere Berichte, die zeigen, wie die Grünen von den anderen Fraktionen aufgenommen wurden. So viel sei verraten: Die Erfahrungen sind ähnlich. Die einzelnen Berichte werden in den nächsten Wochen in diesem Blog veröffentlicht. Den Beginn macht die Floridsdorfer Bezirksrätin Flora Neuberger mit ihrer Bilanz über das erste Jahr: „Jahrelang saß ich so gut wie allein, mit den Journalisten der kommunalen Blätter, in der Besucherreihe. Seit dem Einzug der Grünen ins Amtshaus müssen Platzkarten ausgegeben werden“.
//zitat// Am 8. November 1987 erreichte die „Grüne Alternative Floridsdorf“ bei der Bezirksvertretungswahl 2.382 Stimmen (4,31%) und zwei Mandate. Seit der Angelobung Mitte Dezember 1987 ist ein Jahr vergangen – was hat sich im Bezirk geändert?
Ein Jahr Arbeit im Bezirksparlament – mit Erfolg? Gemessen an den schwierigen Bedingungen unter der Regentschaft von Bezirkskaiser Landsmann antworte ich mit „Ja“! Denn bis zum Herbst 1987 waren bei den Bezirksvertretungssitzungen kaum Interessenten zu finden. Jahrelang saß ich so gut wie allein, mit den Journalisten der kommunalen Blätter, in der Besucherreihe.
Seit dem Einzug der Grünen ins Amtshaus müssen Platzkarten ausgegeben werden. Wer keinen Einlaß findet, kann am Gang mittels Lautsprecher zuhören. In früheren Sitzungen gab es nur wenig Anfragen und Anträge, auf echte Debatten wartete man vergebens. Reibungslos wurden fertige Konzepte abgestimmt. Auch das ist inzwischen anders geworden. Auf Wortmeldungen der Grünen muß spontan reagiert werden. Und es wird spürbar, daß die Bezirksräte der Großparteien nicht nur gegen den Wunsch der Bezirksbewohner, sondern sogar gegen ihre eigene Überzeugung argumentieren müssen. Die wenigen Bezirksrätinnen der Etablierten dürfen sich nur selten zu Wort melden. Liegt das an der Konkurrenzangst der Männer vor den meist engagierteren Frauen? Als Grüne genieße ich den Vorzug, – entsprechend der Verfassung! – meinem Gewissen und damit dem Bürger verantwortlich zu sein. Nicht dem Klubzwang einer Partei! Es gibt Bezirksräte, die mich um diese Freiheit beneiden. Es wäre eine Beleidigung meiner Intelligenz, wenn ich stumm bleiben und auf Befehl die Hand heben müßte. Diese Perversion nennen die Etablierten „demokratische Entscheidung“. Das wollen wir Grüne verändern. Dieser Stimmenmehrheit können wir aber nur mit Unterstützung von Bürgerinitiativen begegnen.
Im vergangenen Jahr habe ich Einblick in die Dichte und das Ausmaß von Parteiapparaten gewonnen. Das Rezept des großen Kuchens, an dem alle mitschneiden wollen, besteht aus folgenden Zutaten: krisensicherer Arbeitsplatz, Beziehungen und Privilegien. Wer ist schon bereit, auf so viel Annehmlichkeit zu verzichten? – Unsere „Volksvertreter‘ vertreten uns längst nicht mehr. Sie sind zu disziplinierten Befehlsempfängern geworden. Sie stillen Interessen der Betreiber statt Bedürfnisse der Bürger.
Wir Grüne sind zu einer Sammelstelle von Bürgerinitiativen geworden, die aus Abwehr gegen undemokratische Entscheidungen zahlreich aus dem Boden wachsen. Die akute Gefährdung unserer Gesundheit macht jeden einzelnen zum Politiker und Betroffenen. Unsere Atemluft ist zum kostengünstigsten Abtransporter von Schadstoffen geworden, und unsere lebenswichtigen Gewässer sind bereits Spülmaschinen. Der „Selbstbedienungsladen Natur“ wird immer kleiner. Das Schlimmste ist die Bedrohung. Das Zweitschlimmste ist die Resignation. Resignieren wir nicht! Politischer Mut und persönlicher Einsatz sind die letzte Chance, Krisen und Gefahren zu bannen. Jeder von uns trägt sein Stück Verantwortung an diesem System und an der tickenden Zeitbombe, die wir unseren Kindern hinterlassen. Dessen sollten wir uns bewußt werden. Wir alle! //zitatende//