„Es gibt keine unschädliche Radioaktivität“, sagte der Naturwissenschaftler und Umweltaktivist Peter Weish 1980 in einem Interview für die Zeitschrift der Initiative österreichischer Atomkraftwerksgegner. Wenig vertrauenswürdig sind die offiziellen Berichte: „Die Behörden ziehen mit den Betreibern am gleichen Strang und versehen die zum Teil alarmierenden Meßergebnisse mit besänftigenden und irreführenden Kommentaren versehen“. Atomkraftwerke schädigen die Gesundheit also auch im Normalbetrieb, ganz ohne „Unfall“ wie vor dreißig Jahren in Tschernobyl.
//zitat// Wie gefährlich ist sie wirklich, die radioaktive Strahlung, die aus einem „normal“ laufenden Atomkraftwerk entweicht? „Umweltfreundlichste Energie“ oder „Tod auf Raten“ — gibt es denn keine objektiven wissenschaftlichen Untersuchungen, die diese Streitfrage entscheiden können? Wir fragten dazu den Biologen Dr. Peter Weish.
INITIATIV: „Das Milliardending muß absolut sicher sein“, fordert die Gewerkschaftszeitung „Solidarität“ von den Zwentendorf-Betreibern. Der Nuklearmediziner Dr. Herbert Vetter garantiert den „Solidarität“-Lesern 1) absolute Sicherheit: Die Strahlenbelastung durch den Kernkraft-Normalbetrieb betrage höchstens ein millirem pro Jahr. Diese Strahlenbelastung sei ohne Bedeutung, da ja schon die natürliche Strahlung hundertmal größer sei.
WEISH: Gegen das alte Argument von dem „einen Millirem“ gibt es drei grundlegende Einwände. Erstens: Der Wert „millirem“ soll die Wirkung einer bestimmten Strahlung auf den Menschen ausdrücken. Er kann nicht direkt gemessen werden, er wird berechnet: Die gemessene Strahlung wird mit bestimmten angenommenen Wirkungsfaktoren multipliziert. Wir wissen nun, daß bei der Berechnung von Strahlenbelastungen, die aus der Anreicherung von Radionukliden in der Nahrungskette resultieren, gravierende Fehler gemacht worden sind. In der BRD gibt es komplizierte Rechengrundlagen für diese Abschätzung. Es hat sich herausgestellt, daß die Behörden nicht, wie es der Gesetzgeber vorschreibt, für „den ungünstigsten Fall“ berechnet haben, sondern sie haben sehr optimistische Anreicherungsfaktoren in diese Berechnungen eingehen lassen. Eine kritische Prüfung durch Kollegen in Heidelberg 2) hat ergeben, daß eine vielfach höhere Strahlenbelastung auf Grund dieser Anreicherung in der Nahrungs-kette durchaus realistisch ist. Der Nachweis ist ganz leicht zu erbringen: Die Strahlenschutzkommission hat sich aus der wissenschaftlichen Literatur jeweils immer die für sie günstigsten Werte herausgesucht und keineswegs realistische Werte angewendet. Es wurde also nicht ein Rechenfehler nachgewiesen, sondern ein Methodenfehler. Es ergeben sich Fehlberechnungen bis zu Hunderten millirem.
INITIATIV: Wie schauen denn dann die Berechnungen für Zwentendorf aus?
WEISH: In den Parlamentshearings im März 1978 habe ich mich bemüht, die Grundlagen für diese Berechnungen zu bekommen. Nach langer Diskussion mit Minister [Josef] Staribacher und H[ans] Grümm, die stets behauptet haben, daß das Kraftwerk sofort abgestellt wird, wenn mehr als ein millirem herauskommt, hat sich folgendes herausgestellt: Es gibt überhaupt kein radioökologisches Gutachten, das die Anreicherung der wichtigsten Nuklide in der Nahrungskette zum Gegenstand hat. Wendet man die neueren deutschen Erkenntnisse auf Zwentendorf an, so ergeben sich auf Grund der zugelassenen Abgaberaten von drei milliCurie Aerosole pro Stunde Belastungswerte, die zum Teil erheblich über den höchstzulässigen Jahres-dosen von 170 mrem liegen. Das Millirem des Herrn Vetter ist also eine reine Hausnummer.
INITIATIV: Ein Atomkraftwerk steht ja nicht allein…
WEISH: Das ist mein zweiter grundlegender Einwand. Die Atomkraftwerke erfordern ja den ganzen komplizierten Komplex der Nuklearindustrie. Das beginnt beim Uranbergbau, setzt sich fort in der Abtrennung des Urans von den Erzen, der Anreicherung des Urans, der Fertigung der Brennelemente, die im Atomkraftwerk durch Uranspaltung hoch radioaktiv werden; dann kommt die Wiederaufbereitung der bestrahlten Brennelemente und schließlich die Atommülllagerung. Der Reaktor ist, was umwelthygienische Aspekte betrifft, noch der relativ am besten beherrschte Abschnitt in diesem sogenannten Kreislauf (bei Normalbetrieb). Bei der Urangewinnung, aber vor allem bei der Wiederaufbereitung, werden viel größere Mengen radioaktiver Stoffe in die Umwelt freigesetzt.
INITIATIV: Aber auch ohne Atomindustrie sind wir noch immer der natürlichen Strahlung ausgesetzt…
WEISH: Das ist der dritte und vielleicht wichtigste Aspekt. Bei diesen Vergleichen wird nie dazu gesagt, daß ja die natürliche Strahlung selbst nicht unschädlich ist. Wir müssen heute davon ausgehen, daß die natürliche Strahlung einen Teil der spontan auftretenden Krebsfälle, Erbschäden und Mißbildungen verursacht. Überall dort, wo man in Gegenden erhöhter natürlicher Strahlung genaue Untersuchungen gemacht hat, hat man solche Effekte gefunden. Eine der wichtigsten neueren Untersuchungen wurde von Prof. Pohl in Salzburg durchgeführt. Seine Arbeitsgruppe hat festgestellt, daß in der Umgebung von Gastein bei einem Strahlenpegel, der dem zwei- bis dreifachen des normalen Untergrundes entspricht, statistisch signifikant eine Zunahme von Chromosomenbrüchen in bestimmten Blutzellen auftritt.
INITIATIV: Äußert sich diese Zunahme von Chromosomenbrüchen auch in einer signifikanten Zunahme von Krankheiten und Mißbildungen in dieser Gegend?
WEISH: Das Hauptproblem bei allen diesen Untersuchungen ist methodischer Natur. Man muß sehr viele Objekte unter gleichartigen Bedingungen untersuchen. Es ist relativ leicht, bestimmte Blutzellen zu kultivieren und Chromosomenbrüche nachzuweisen, auf der anderen Seite fehlen aber umfassende Gesundheitsstatistiken, die es möglich machen würden, etwa die Häufigkeit von Mißbildungen mit anderen Gebieten zu vergleichen. Wir können aber sicher sein, daß Strahlung die Chromosomenbrüche auslöst, sie auch in anderen Körperzellen bewirkt. Es ist daher der indirekte Schluß durchaus berechtigt und stichhaltig, daß verschiedene Gesundheitsschäden von natürlicher Strahlung ausgelöst werden können.
INITIATIV: Also lebt man in Wien oder Linz doch gesünder als in Gastein oder im Waldviertel, wo ja bekanntlich der natürliche Strahlenpegel höher ist?
WEISH: Die Strahlung ist ja nicht der einzige Umweltfaktor, der auf die Gesundheit einwirkt. Wir haben heute speziell in den Ballungszentren sehr ungesunde Verhältnisse und es ist durchaus anzunehmen, daß in Gegenden mit relativ reiner Luft und geringer Umweltverschmutzung der Faktor Strahlung insgesamt keinen allzu großen Effekt hat. Auf der anderen Seite wissen wir, daß Strahlung und chemische Schadstoffe einander in der Wirkung verstärken. Der Effekt einer zusätzlichen Strahlenbelastung wird daher in Ballungsgebieten höher sein als in relativ sauberen Regionen.
INITIATIV: Es gibt doch schon viele Jahre Betriebserfahrung mit Atomkraftwerken. Wenn also in der Umgebung von Atomkraftwerken tatsächlich höhere Dosen als 1 millirem/Jahr auftreten, müßten sie ja bereits konkret nachweisbar sein.
WEISH: Mit dieser Frage hat sich die Arbeitsgemeinschaft Umweltschutz an der Universität Heidelberg, vor allem Kollege Dieter Teufel, befaßt. Sie hat eine Schrift publiziert, mit dem Titel: „Radioaktive Kontaminationen in der Umgebung kerntechnischer Anlagen. Analyse der amtlichen Umgebungsüberwachung“. Man hat zunächst versucht, von den Behörden Unterlagen über die Registrierung der Radioaktivität in der Umgebung einiger deutscher Kernkraftwerke zu bekommen. Die Arbeitsgruppe hat nur von einer einzigen Landesanstalt solche Unterlagen erhalten. Man sieht daran, daß diese Meßdaten nicht allgemein zugänglich sind. Die Daten, die zugänglich waren, wurden von dieser Gruppe kritisch untersucht. Die Werte waren zum Teil von den Betreibern selbst gemessen und von den Behörden in Berichten veröffentlicht. In der Umgebung des Atomkraftwerkes Obrigheim hat man jährliche Strahlenbelastungen von ungefähr 100, aber auch über 200 millirem festgestellt. Man ist in der Messung der Anreicherung radioaktiver Stoffe fahrlässig vorgegangen: Es wurden von amtlicher Seite Tabellen veröffentlicht, die eine Auswertung unmöglich machen. Die Messungen erfolgen stets an verschiedenen Punkten und zu so ungünstigen Zeiten, daß überhaupt keine Vergleiche möglich sind. In einem Jahr war deutlich eine Anreicherung von radioaktivem Kobalt, Mangan und Jod unterhalb des Kühlwasserauslaufes im Neckar festzustellen. Im nächsten Jahr stand in der Zusammenfassung des Berichtes, daß keine Anreicherung in Wasserpflanzen festgestellt worden war. Wenn man den Bericht aber genau liest, stellt man fest, daß eine solche Anreicherung auch überhaupt nicht untersucht worden war. An diesem Beispiel zeigt sich, daß die Behörden mit den Betreibern am gleichen Strang ziehen und die zum Teil alarmierenden Meßergebnisse mit besänftigenden und irreführenden Kommentaren versehen.
INITIATIV: Wieweit sind direkte Schäden an Menschen nachweisbar?
WEISH: Das Schwierigste im Zusammenhang mit Strahlung ist der direkte Nachweis von Effekten auf Menschen bei niederen Dosen. Auf der einen Seite gibt es eine Vielzahl von Experimenten, die übereinstimmend zeigen, daß Krebs, Leukämie, Erbschäden und Mißbildungen ohne Schwellenwert auch im niederen Dosisbereich auftreten. Es ist daher für jeden Fachmann sonnenklar, daß Radioaktivität, die auf den Menschen einwirkt, ganz sicher Gesundheitsschäden verursacht, vor allem, wenn sehr viele Menschen davon betroffen sind. Die meisten Schäden treten allerdings erst nach Ablauf einer längeren Latenzzeit auf. Voraussetzung zum direkten Nachweis solcher Schäden sind sehr genau erhobene Daten über Säuglingssterblichkeit, Mißbildungen, Totgeburten, Krebs, Leukämie usw. Statistiken dieser Art sind daher schwierig zu machen und es ist leicht, daran herumzukritisieren. Solches Datenmaterial ist aber in der Praxis nur in unzulänglicher Form vorhanden. Trotzdem wurden bisher mehrere Untersuchungen publiziert, die auf Gesundheitsschäden im Umkreis kerntechnischer Anlagen hinweisen. Beispielsweise hat der Leiter des Gesundheitsamtes in Jefferson County, Colorado, Dr. Carl Johnson, nachgewiesen, daß im Umkreis der Plutoniumfabrik Rocky Flats die Häufigkeit der Leukämie angestiegen ist. Prof. [Gordon] Mac Leod, zur Zeit des Unfalls in Three Mile Island Verantwortlicher für das Gesundheitswesen in Harrisburg, hat auf einen signifikanten Anstieg der Säuglingssterblichkeit hingewiesen, der im Umkreis von fünf und zehn Meilen um das Kraftwerk in den sechs auf den Unfall folgenden Monaten (im Vergleich zum gleichen Zeitraum in den vorangehenden Jahren) aufgetreten ist. Außerdem verweist er auf Häufungen von Schilddrüsendefekten in der Nähe des Kraftwerks, und zwar in der Richtung, in der sich die Radioaktivität durch den Wind ausgebreitet hat. Gesundheitsschäden dieser Art lassen sich mit Anreicherung von Radiojod in der empfindlichen embryonalen Schilddrüse leicht erklären. Viele Statistiken über die Auswirkung von Atombombenversuchen und Emissionen von Atomkraftwerken hat Prof. Ernest Sternglass in den letzten zehn Jahren veröffentlicht. Auf ihn hat sich die Atomlobby „eingeschossen“, erklärt ihn mit großem Propagandaaufwand zum Schwindler, ohne auf seine Daten ehrlich einzugehen. Die Behauptung, niemand sei durch die Radioaktivität aus Atomanlagen zu Schaden gekommen, steht im Widerspruch zu allen Erkenntnissen der Strahlenbiologie. Wer diese Behauptung aufstellt, hätte die Pflicht, sie mit ausreichenden statistischen Unterlagen auch zu beweisen. Aber aus dem Fehlen von Untersuchungen kurzerhand ein Fehlen von Gesundheitsschäden ableiten zu wollen, ist einfach unseriös.
Fußnoten
1) „Zwerge im Wald“ von Nuklearmediziner Univ.-Prof. Dr. med. Herbert Vetter in „Solidarität“, September 1980.
2) Arbeitsgemeinschaft Umweltschutz an der Universität Heidelberg: „Radioaktive Kontaminationen in der Umgebung kerntechnischer Anlagen. Analyse der amtlichen Umgebungsüberwachung“.
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