Im Sommer 1990 roch es in Floridsdorf plötzlich nach Chemikalien. Der Grund war recht simpel: im Werk der Chemiefirma Perstorp gab es zwei Unfälle, bei denen Formaldehyd und Phenol austraten.
Das Chemiewerk in der Sebastian-Kohl-Gasse gab es zu diesem Zeitpunkt schon lange: 1910 wurden durch den Zusammenschluss zweier Firmen die Vereinigten Chemischen Fabriken, kurz VCF gegründet. Diese produzierten ein breites Spektrum an Chemikalien, unter anderem Formaldehyd und Süßstoffe. Im 2. Weltkrieg wurde das Werk Ziel von Bombenangriffen. 1973 wurde ein großer Teil der Anlage an die schwedische Firma Perstorp vermietet und die Produktion mit Ausnahme der Süßstoffherstellung an diese verkauft. Bereits in den 1980ern kam es zu Schadstoffaustritten und daraus resultierender Geruchsbelästigung. Eine zeitgenössische Studie des Instituts für Umwelthygiene an Schulkindern des Grätzels legte bereits damals nahe, dass die Gesundheit ebendieser durch die Emissionen beeinträchtigt war.
Fundstück 1: Handschriftliches Protokoll der Vorfälle des Perstorp-Werkes.
Aus Gründen des Datenschutzes wurden Personennamen unkenntlich gemacht.
Die besorgten Anwohner wandten sich nach den Vorfällen im Sommer 1990 unter anderem an die Floridsdorfer Grünen, welche sofort mit der Recherche begannen: In mehreren Briefen kontaktierten sie die Grüne Partei in Italien, welche sich ihrerseits an die schwedischen Grünen wandte, da es in beiden Ländern ebenfalls Perstorp-Werke gab. Schnell wurde klar, dass die Unfälle in Wien keine Einzelfälle waren. Beide Parteien bestätigten, dass es auch bei ihnen regelmäßig zu Vorfällen mit Chemikalienaustritt kam. Die schwedischen Grünen berichteten sogar über eine erhöhte Zahl an Krebserkrankungen im Umfeld des Werks gegenüber dem schwedischen Durchschnitt. Ob diese auf die Fabrik zurückzuführen waren, konnte nicht eindeutig festgestellt werden.
Fundstück 2: Fax der schwedischen Grünen an die italienischen Grünen, September 1990
In Floridsdorf wurde inzwischen von Gerhard Jordan und Flora Neuberger die Arbeit aufgenommen: mit Flugblättern informierten die Floridsdorfer Grünen die umliegende Bevölkerung, sie stellten unzählige Anfragen an die Bezirksvorstehung, erwirkten die Durchführung einer Bürger:innen-Versammlung, veranstalteten Kundgebungen und forderten die Absiedelung des Werks aus dem Wohngebiet. Unter dem Druck der Bürgerinitiative hatte die Stadt Wien gratis Atemwegsuntersuchungen für die Anrainer angeboten.
Zahlreiche Zeitungsartikel erschienen und letzten Endes war der Image-Verlust und die Aussicht auf neue Umweltauflagen zu viel für die Firma: 1991 schloss sie das Werk komplett.
Fundstück 3: Benachrichtigung der Stadt Wien zu kostenlosen Lungenfunktionstests im Umkreis des Perstorp-Werkes
Fundstück 4: Rundschreiben der Grünen Floridsdorf zur Absiedelung des Werkes.
Auf der Rückseite befindet sich eine Chronologie der Ereignisse.
Der durch die Bombenangriffe im 2. Weltkrieg und die Betriebsunfälle stark belastete Boden wurde mittlerweile komplett dekontaminiert und heute befindet sich auf dem Areal eine Eventlocation.
(TM, 14.10.2024)