79/366: Bezirksrat Michael Kohlhaas wird in Jeans angelobt

Im Grünen Archiv gibt es Berichte zum Jubiläum „Ein Jahr Grüne in der Wiener Bezirksvertretung“ (1988), die wir hier in unregelmäßigen Abständen veröffentlichen wollen. Der erste Teil – aus Floridsdorf – erschien am 13. März unter dem Titel „Platzkarten im Amtshaus“ in diesem Blog.

Heute geht es in den sechzehnten Bezirk: Der Ottakringer Bezirksrat Christian Luksch fasste seine resignierenden Erinnerungen unter dem Titel „Nackte Gewalt“ zusammen und erinnert an Michael Kohlhaas – die literarische Figur und ihr historisches Vorbild setzten sich gegen Machtmissbrauch, unfaire Behandlung und Unterdrückung ein. Vieles von seinen Beobachtungen deckt sich mit den Berichten aus den anderen Bezirken, und es dürfte wohl grünen Gemeindevertreter_innen auch in anderen Orten bekannt vorkommen.


Christian Luksch: Nackte Gewalt, 1988 (Grünes Archiv)
Christian Luksch: Nackte Gewalt, 1988 (Grünes Archiv)

//zitat// Ein Jahr grüner Bezirksrat in Ottakring, der „Roten Burg“ Wiens, was ist das? Ein Jahr Billy the Kid im Wilden Westen. Ein Jahr Michael Kohlhaas gegen die Feudalherren des Mittelalters. Ein Jahr mit einem Fuß im Gefängnis und mit dem anderen im Irrenhaus.

Das wärs auch schon wieder. Recht viel mehr gibts dazu nicht zu sagen. Im großen und ganzen. Und im Detail?

Angelobung: Natürlich erscheine ich ohne Krawatte. Dafür aber in Blue Jeans, mit Tennisschuhen, grünem Hemd und weißer Weste. Vizebürgermeisterin Smejkal sackt bei meinem Anblick zusammen. Ob ich gelobe? Natürlich gelobe ich.

1. Sitzung: Wir lehnen es ab, den Bezirksvorsteher mitzuwählen. Die Stadtverfassung ist in diesem Punkt ein Prachtbild der Demokratiefeindlichkeit, nur die stärkste wahlwerbende Partei darf einen Kandidaten für das Amt stellen.
Ebenfalls abgelehnt wird von uns das Bezirksbudget. Erstens haben wir nicht daran mitgearbeitet und können so auch keine Verantwortung dafür übernehmen, zweitens sind uns 450 Schilling pro Ottakringerin einfach zu wenig.
Der neue alte Bezirksvorsteher kocht fast über. Wir haben uns das Türl zugeschlagen, bevor wir durchgegangen sind.

2. Sitzung: 2 Anträge der Grünen – Einladung von Schulklassen zu den öffentlichen Sitzungen der Bezirksvertretung im Rahmen des Politikunterrichtes sowie öffentliche Bekanntgabe der Sitzungstermine über die Bezirkszeitungen werden bereits in der Präsidiale abgeschmettert. „Dafür sind wir nicht zuständig.“

3. Sitzung: In der Präsidiale wird ein Antrag auf Rauchverbot während der Sitzungen abgeschmettert. Nach Auffassung des Bezirksvorstehers verstößt dieser Antrag gegen die Menschenrechte, da er die Minderheit der Raucher diskriminiert. Der Bezirksvorsteher selbst ist Nichtraucher.

Antrag der grünen BezirksrätInnen auf Rauchverbot während der Sitzungen.
Antrag der grünen BezirksrätInnen auf Rauchverbot während der Sitzungen.

4. Sitzung: Ein Antrag auf Bildung einer Kulturkommission wird von SP, VP, FP abgelehnt. Begründung: Ottakring habe genug Kultur (z.B. VHS und Bawag-Foundation), eine Kulturkommission brauche man daher nicht.

5. Sitzung:  Zwei Anträge, gegen die Einstellung der Linie 8 und gegen die Straßenbahntariferhöhung werden erst gar nicht zur Abstimmung zugelassen. Begründung: Die Bezirksvertretung dürfe laut Gesetz gar nicht dazu Stellung nehmen. Der vorgebrachte Einwand, daß dann 5 Bezirksvertretungen Wiens, die diese Anträge bereits beschlossen hätten, sich offensichtlich aus lauter Gesetzesbrechern zusammensetzen, „interessiert“ den Herrn Bezirksvorsteher nicht.

Die Entscheidungen fallen in der  Präsidiale,  die Bezirksvertretungssitzungen sind nur pro forma da. (Originalzitat). Das stimmt. Wer aber noch die Hoffnung hat, daß wenigstens dort halbdemokratische Entscheidungen fallen, irrt gewaltig. Auch eine Halbdemokratie setzt voraus, daß es Diskussionen, weil verschiedene Meinungen gibt. In der Bezirksvertretung Ottakring gibt es allerdings nur eine Meinung, die des Bezirksvorstehers. Und jede Fraktion hat sie zu teilen.
Und wehe denen, die das nicht tun. Die werden beschimpft als Querulanten, Schizophrene, Chaoten, Kommunisten, Nazis, ja sogar als Briefträger (!). Oder bedroht. Mit Gerichten (Mir werden rechtliche Schritte gegen Ihnen einleiten!), mit Deportation (Eine in an Zugwaggon und aun de Landesgrenze!), mit nackter Gewalt (Waun mir a Radlfohrer in ana Einbahn entgegenkummt…). Im günstigsten Fall läßt man einen blöd sterben. (Von 6 Sitzungen erhielten wir die Protokolle von ganzen zwei.)

Ein Jahr Bezirksrat der Grünen in Ottakring. – Ausdrücke wie Feudalherrschaft und Wilder Westen treffen die Sache ganz genau. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder mitmachen oder zurücktreten. Ich habe mich für letzteres entschieden. //zitatende//

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