350/366: „Der Atomstaat“ – wie Kernkraft Gesellschaft verändert

Robert Jungk ging 1977 hart mit der „friedlichen“ Nutzung der Kernenergie in Gericht und meinte: Die hochriskante Technologie führt zu autoritären Strukturen. Unser Gastautor Stefan Wolfinger hat sein in vielen Auflagen erschienenes Buch „Der Atomstaat“ für uns gelesen.


Taschenbuchausgabe des "Atomstaat" von Robert Jungk.
Taschenbuchausgabe des „Atomstaat“ von Robert Jungk.

Billiger, sauberer Strom und ewige Wirtschaftswachstum durch die friedliche Nutzung der Kernenergie – diesen Verheißungen ging der Zukunftsforscher Robert Jungk nicht auf dem Leim. Er warnte schon früh vor den Gefahren, die von Atomkraftwerken ausgehen. Dabei hatte er nicht nur die gesundheitlichen und ökologischen Risiken im Blick. In seinem prominentesten Werk, dem 1977 erstmals erschienenen Buch „Der Atomstaat“, verdeutlichte er die „gesellschaftlichen Folgen wissenschaftlich-technischen Fortschritts, die von den Politikern bisher vernachlässigt wurden“. Mit der Nutzung der Kernenergie sei ein Sprung in eine ganz neue Dimension der Gewalt gewagt worden. „‚Atome für den Frieden‘ unterscheiden sich prinzipiell nicht von ‚Atomen für den Krieg'“, betonte er im Vorwort.

Negative Auswirkungen der Atomindustrie auf Gesellschaft und Demokratie

Jungks übergeordnete These lautete: Seit sich Politik und Industrie dafür entschieden haben, Kernenergie zu nutzen, werde die Gesellschaft in einen „Atomstaat“ verwandelt, in dem das Wohlergeben der Menschen immer mehr in den Hintergrund tritt. Der Autor berichtete etwa von dissidenten Wissenschaftlern, die von der mächtigen Atomindustrie daran gehindert werden, die Wahrheit über Störanfälligkeit und Gefährlichkeit der Atomtechnologie zu verbreiten. Anhand von Beispielen illustriert er, wie Kernkraftwerkbetreiber in verschiedenen Ländern den Bedenken und Ängsten der AtomkraftgegnerInnen begegnen: mit einer Mischung aus Beschwichtigungen, Drohungen, Falschinformationen und dem Verschweigen von Tatsachen.

ArbeiterInnen als „Strahlenfutter“

Jungk unterstreicht, wie riskant Atomkraftwerke allein durch den Faktor Mensch sind: Ihr Betrieb ist ohne fehleranfälliges menschliches Zutun nicht möglich. Damit die Arbeiter und Arbeiterinnen bestmöglich zu einem funktionierenden Teil des Atomkraftwerkes werden, müssen sie sich hohen physischen und psychischen Belastungen aussetzen und sich einer strengen Disziplin mit geradezu militärischer Befehlskette unterwerfen. Sie werden ihrer Arbeitsrechte beraubt und laufen Gefahr, sich als „Strahlenfutter“ ihre Gesundheit zu ruinieren.

Polizeistaat gegen „Atomterroristen“

Um Atomkraftwerke gegen mögliche Anschläge zu schützen, bedarf es eines Polizeistaates. Er muss die Anlage überwachen und verhindern, dass TerroristInnen das Werk infiltrieren, das Kraftwerk zerstören oder Plutonium zu entwenden. Die notwendige Folge: Der „Atomstaat“ schränkt Bürgerrechte ein und verschärft die staatlichen Überwachungsmaßnahmen. Das Ganze kann den Menschen sogar als gerechtfertigte Vorkehrungen verkauft werden, die angeblich ausschließlich dem Schutz vor den Gefahren der Kernenergie dienen. Jungk folgerte, dass somit die „zunehmende Überwachung der Bürger durch den technokratischen Staat vom Odium der Willkür“ befreit werden soll und die Bürgerinnen und Bürger letztlich auch in anderen Lebensbereichen dazu gebracht werden, die Einschränkung ihrer Rechte als gerechtfertigt und vernünftig anzusehen.

Gewinn vor Leben

Jungk sah die Atomindustrie von kühl rechnenden Menschen geführt. Bleibt ein Gewinn, auch wenn bei Störfällen Menschen sterben und hohe Versicherungssummen fällig werden? Solche Überlegungen wären „die logische Folge einer Technologiepolitik, die das Wachstum der Produktion über alle anderen menschlichen Interessen stellte“. Mit seinem Buch bezog Robert Jungk kompromisslos und wütend Stellung gegen all jene, die an der Unterwerfung der Menschen unter die Allmacht der Technik und des Staates arbeiten. An manchen Stellen übertrieb er allerdings seine Warnungen vor dem Entstehen des „Atomstaates“. Beispielsweise schrieb er über die deutsche Atompolitik: „Damals [im nationalsozialistischen Deutschland, Anm.] hieß die Parole Deutschland über alles. Heute lautet sie: Plutonium über alles.“

eine andere Ausgabe des "Atomstaat" von Robert Jungk.
eine andere Ausgabe des „Atomstaat“ von Robert Jungk.

Umdenken nach Katastrophen

Der von Jungk befürchtete „Atomstaat“, in dem der Schutz der Kernkraftwerke das gesellschaftliche Klima prägt, ist nicht entstanden. Österreich hat 1978, ein Jahr nach Erscheinen des Buches, das fertiggestelltes Kernkraftwerk Zwentendorf nach einer Volksabstimmung nicht in Betrieb genommen. Deutschland plant, all seine Atomkraftwerke bis 2022 zu schließen. Weltweit sind jedoch immer noch zahlreiche Anlagen in Betrieb. Der Umgang mit der Atomkraft muss nach wie vor auf internationaler Ebene diskutiert werden. Wie steht es mit der Sicherheit? Was passiert mit dem radioaktiven Abfall? Muss Energie überhaupt mithilfe von Atomtechnologie gewonnen werden?

Jungks Buch kann dabei als Anregung dienen, über die gesellschaftlichen Folgen neuer Technologien nachzudenken. Dass die Ablehnung der Kernenergie heute zumindest in manchen Ländern zu einem gesellschaftlichen Konsens gehört, liegt allerdings nicht daran, dass frühere Warner wie Robert Jungk sich durchgesetzt hätten, sondern an den Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima.


Literaturangabe

Robert Jungk: Der Atomstaat. Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit. Erstauflage München 1977; Neuauflage als Heyne-Sachbuch. München 1991

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