208/366: Günther Nenning und das verflixte Religiöse

Grün-Alternative Zeitung GAZ vom November 1992.
Grün-Alternative Zeitung GAZ vom Dezember 1992 mit Themenschwerpunkt Religion.

„Das Grüne ist tatsächlich eine religiöse Bewegung, und insofern reicht sie übers Politische hinaus. Bei Grüngegnern ist dies ein Gegenstand des Spottes, es ist aber ein Ehrentitel“, schrieb Günther Nenning im Dezember 1992 in einem sicher kontroversen Beitrag für die Grün-Alternative Zeitung GAZ.

In dieser „Weihnachtsausgabe“ sind außerdem Beiträge über die Theologie der Befreiung in Lateinamerika, Eugen Drewermann, die Frage „ChristInnen und Grüne – wie geht das zusammen?“ und den Arbeitskreis ChristInnen und Grüne erschienen.


Das verflixte Religiöse

Günther Nenning über osmotische Prozesse

// Überall wo Grüne auftreten, stehen sie in einem politischen Bündnis mit Kräften, die ideologisch eigentlich nicht zusammenpassen – nicht untereinander und nicht mit den Grünen: Linke (Restsozialisten, Restliberale, Restprogressive). Die aber sind immer für Industriegesellschaft und Naturbeherrschung – die Grünen aber nicht oder nur mit großer Skepsis.

Christen vom progressiven Flügel – die aber denken z.B. in Sachen Abtreibung oft anders als viele Grüne und fast alle Linke.

Das Bündnis Grüne/Linke/Christen ist praktisch, weil es in allen aktuellen Fragen rasch zur Hand ist (z.B. Ausländerfrage). Ohne dieses Bündnis wären die Grünen weniger wirksam.

Es ist auch eine fruchtbare Spannung drin. In der praktischen Zusammenarbeit ideologisch verschiedener Partner lernt man voneinander. Es kommt zu osmotischen Prozessen.

Die Grünen, die zum Nichts-als-Grünen neigen, kriegen von ihren „linken“ Partnern sozialpolitische Impulse. Von den Christen kriegen die Grünen Impulse in Sachen Abtreibung. („Kann ich für die Frösche in der Au sein, wenn ich nicht für die Frösche im Mutterleib bin“, formulierte ich seinerzeit nach Hainburg.)

Der Nachteil dieser nun schon selbstverständlichen Dreierkoalition Grüne/Linke/Christen ist, daß sie so schmal ist. Sie läßt große Gruppen draußen, die für das Vorwärtskommen in grünen Fragen entscheidend sein können und insofern dazugehören: grüne Rote, die aber nicht links sind (Rotkonservative); grüne Schwarze, die aber nicht christlich-progressiv sind, sondern ÖVP- oder Krenn-Menschen; grüne Blaue, die aber nicht braun sind oder nur hellbraun. Ich bin sehr für dieses erweiterte Grünbündnis (Pilz-Koalition), aber es wäre ja närrisch, deswegen die bewährte Grüne/Linke Christen-Koalition fahren zu lassen.

Insbesondere wichtig ist mir das Zusammensein mit Christen, weil dadurch eine Ansteckung der Grünen und Linken erfolgen könnte. So was hofft der Missionar im Christen ja immer.

Ich kann mich noch erinnern, wie ich irgendwo in der Grünfamilie behauptete, eigentlich seien wir eine religiöse Bewegung und ähnlichen vernünftigen Unsinn, und Peter Pilz sagte: „Laßt uns beten!“ – Damals meinte er’s ironisch.

Das Grüne ist tatsächlich eine religiöse Bewegung, und insofern reicht sie übers Politische hinaus. Bei Grüngegnern ist dies ein Gegenstand des Spottes, es ist aber ein Ehrentitel.

„Religiös“ heißt: Ehrfurcht und Bindung an eine Wirklichkeit, die hintergründiger ist als die Alltagswirklichkeit.

Natur ist so eine Hintergrund-Wirklichkeit. Man braucht sie nur ins Deutsche zu übersetzen: Schöpfung. Und man ist fast schon bei der Religion. Die Natur als Gegenstand der Politik – das ist eine Hauptleistung der Grünbewegung.

In den Programmen der alten Parteien steht „der Mensch im Mittelpunkt“. Das ist ja nicht falsch. Aber die Natur geht über ihn hinaus. Dies ist der Schritt vom Nichts-als-Humanistischen zum Auch-Religiösen – so wird eine künftige Ideengeschichte der Grünbewegung dies einschätzen. Die Grünen – ich meine nicht die Parteigrünen, sondern die Grünbewegung insgesamt – haben in die Politik wieder eine tragende Idee eingebracht, die mehr als bloß politisch ist. Die Roten hatten eine solche übergreifende Idee, als sie noch Sozialisten waren; ebenso die Schwarzen, als sie noch Christdemokraten waren. Jetzt haben beide Regierungsparteien keine geistige Grundlage. Und dementsprechend hin sind sie.

Man darf nicht blind spielen. In diesen Zeiten der Wende nach rechts ist eine das bloß politische übersteigende Idee auch alles, was mit N anfängt (Nation, national und eventuell noch ein paar Silben dazu). Es hat auch seine Peinlichkeit, wenn das „Religiöse“ wieder eintritt in die Politik. Aber sich drücken hilft nichts.

Die Zukunft wird nicht zwischen den Haus-, Hof-, Staats- und Altparteien ausgehandelt (es gibt deren mindestens drei, vielleicht vier).

Das verflixte „Religiöse“! Man soll sich aber auch freuen, daß es in der Politik wieder um leitende Ideen geht, um Kampf auch im Geisterreich. Also mich jedenfalls freut’s. //

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