100 Vertreter_innen verschiedener Alternativgruppen trafen einander im März 1982 auf einem Bauernhof nahe Linz. Das Ofteringer Treffen war eine der Nachfolgeveranstaltungen des ersten gesamtösterreichischen Alternativentreffens, das 1978 in Graz stattgefunden hatte. Die Delegierten beschlossen, bei der Nationalratswahl 1983 zu kandidieren, und diskutierten über Grundwerte und Grundsatzprogramm.
Dan Jakubowicz und Gerhard Geissler lieferten im Alternativenrundbrief 53 vom April 1982 einen Bericht.
Am 20./21.März 1982 fand auf einem Bauernhof in Oftering in der Nähe von Linz ein Delegiertentreffen von österreichischen Alternativgruppen statt. Etwa 100 Leute waren gekommen; leider waren die Bundesländer Vorarlberg, Tirol, Salzburg, Kärnten und Burgenland nur schwach oder gar nicht vertreten.
Nach einer Vorstellungsrunde ging es in drei regionale Arbeitskreise; wir Wiener können nur etwas über den Kreis Wien/NÖ/Bgld. erzählen. Am Anfang gab es eine kurze Debatte über die Frage, ob über die Frage einer Kandidatur zum Nationalrat überhaupt noch gesprochen werden müsse oder ob das „eh schon klar“ sei. Letztlich wurde dann doch darüber gesprochen und es stellte sich heraus, daß fast alle eine Kandidatur befürworteten. (Wie hörten später, daß es in der Gruppe Stmk/ Ktn. ebenfalls eine überwiegend positive Meinung zur Kandidatur gegeben hat, während die Stimmung der Gruppe OÖ + westlich davon eher geteilt war.)
Vertreter der Wiener Homosexuelleninitiative erklärten sich bereit, die AL zu unterstützen, falls sie die Gleichberechtigung für Homosexuelle zu einem ihrer wesentlichsten Programmpunkte machen würde. Während es in unserer Gruppe niemanden gab, der dieser Minderheit die gleichen Rechte absprechen wollte, gab es Stimmen, die der Ansicht waren, dieses Problem müßte zwar im AL-Programm erwähnt werden, es sei aber in seiner Wertigkeit nicht als eine Hauptforderung geeignet (z.T. aus sachlichen, z.T. wohl aus wahltaktischen Gründen). Die HOSI-Vertreter waren sehr verärgert und zeigten das auch; es scheint, als wären sie derzeit nicht mehr an der AL interessiert (einer hielt es im Gespräch im kleinen Kreis z.B. für unakzeptabel, Stadtautobahnen für gleich wichtig zu halten wie Homosex.-Diskriminierung).
grüne Ideologie
In der Wien/NÖ/Bgld.-Gruppe wurde auch darüber diskutiert, ob das Kitzmüller-Papier [Programmentwurf von Erich Kitzmüller, Anm.] als Grundlage für eine Programmdiskussion geeignet sei. Der Absatz über die Einschränkung der Sozialleistungen wurde kritisiert, und über das Wort „gewaltfrei“ gab es eine längere Diskussion. Die Delegierten der Wiener AL hielten das Kitzmüller-Papier wegen der darin enthaltenen „grünen“ Ideologie für unannehmbar; ein Aktionsprogramm mit dem Schwerpunkt Arbeitslosigkeit bzw. bei konkreten Aktionen und Forderungen ohne ideologischen Hintergrund wäre ihnen besser erschienen. Auch über dieses Thema wurde längere Zeit gesprochen. [Alois] Englander stellte seine Idee einer gemeinsamen Kandidatur möglichst vieler angemeldeter „grüner“ Parteien und der AL vor; neben der Bezeichnung der Wahlplattform (Parteibezeichnung) könne der Wähler ja durch Hinschreiben eines Personennamens seine Präferenz für eine der Teilgruppen kundtun, und nach diesem Schlüssel sollten dann die Mandate verteilt werden.
Im Plenum wurde dann nochmals über die Frage „Kandidatur – ja oder nein“ diskutiert. Der Schärdinger Gruppe, die besonders skeptisch gegenüber einer Kandidatur war (Argumente siehe Alt.-Rundbrief 52a), wurde geantwortet, daß man Gegenstimmen keineswegs „überfahren“ wolle. Im Gegenteil, man müsse aus den Ängsten der Skeptiker lernen und die AL eben so aufbauen, daß diese Ängste nicht Wirklichkeit werden. Letztlich meinten dann die Schärdinger, sie wollten einer Kandidatur, obwohl sie sie nicht für zweckmäßig hielten, nichts in den Weg legen. Von vielen Seiten gab es Aufrufe zur Zusammenarbeit aller kandidierenden Gruppen: ein Wiener Vertreter der Wallner-„Grünen“ distanzierte sich von diversen Aktionen von [Elisabeth] Schmitz und [?] Wallner (!) und wies darauf hin, daß die große Mehrheit ihrer Gruppe ganz ähnliche Ansichten habe wie die AL und daß sie sehr gerne über eine Zusammenarbeit diskutieren würden.
Der drastische Widerspruch von gleichzeitiger betonter Loyalität zur eigenen Gruppe und vernichtender Kritik an deren Gründer und Leitfigur löste wegen der naiv-offenherzigen Darstellung großes Gelächter aus, andererseits meinten einige, daß man die Zusammenarbeit im Auge behalten solle. Der Gemeinderat der Salzburger Bürgerliste, [Herbert] Fux, sagte, daß die Arbeitsgemeinschaft österreichischer Bürgerinitiativen, die er auch vertrete, nur eine gemeinsame Kandidatur aller grüner bzw. alternativer Hauptströmungen unterstützen wolle“ gäbe es mehrere große grüne/alternative Listen, so hielten er bzw. die ARGE das für sehr schlecht und sie würden sich keiner anschließen.
Ein Vertreter einer süddeutschen Sektion der „grünen Partei“ (2 waren da) meinte, unsere Diskussionen erinnerten ihn an die Situation in der BRD vor 3-4 Jahren; auch zwei Vertreter der Hamburger „Grünen alternativen Liste“ (Fusion aus Grünen und Alternativen) rieten uns zu einer möglichst breiten Zusammenarbeit, da man so die besten Chancen hätte. Andererseits wurde mehrfach geäußert, die AL müsse erst ihre eigene Gruppenidentität finden bzw. stärken, bevor sie sich zu „Koalitionsgesprächen“ finden könne.
Entscheidung für Kandidatur
Das Fazit des Plenums: eine dezidierte Entscheidung, die NR-Kandidatur 1983 anzustreben. Nach einem Abendessen und einem dezentralisierten Fest mit Musik wurde teilweise bis in die frühen Morgenstunden hinein diskutiert. Demzufolge konnte auch der (am Vorabend durch eine Abstimmung bestimmte) Anfangstermin von 8 für das Plenum nicht eingehalten werden. Es waren auch schon etliche Leute abgereist. Es zeigte sich, daß es dringend nötig war, in Arbeitsgruppen über inhaltliche, strategische und organisatorische Fragen weiter zu beraten. Daraufhin wurden 4 Arbeitskreise gebildet: „Inhalte“, „Strategie“, „interne Organisation“ und „Presseerklärung“ – für 12.30 war nämlich ein Live-Interview auf Ö-Regional/OÖ geplant.
Grundwert „gewaltfrei“ umstritten
Knapp nach 11.30 kam man wieder im Plenum zusammen. Die geplante Presseerklärung wurde von Fritz Zaun verlesen; die Debatte entzündete sich an der Nennung der vier Prinzipien und da vor allem am Prinzip „gewaltfrei“ – die Delegierten der Wiener AL wehrten sich heftig dagegen. Da die überwiegende Mehrheit der Anwesenden aber dagegen war, überhaupt keine inhaltlichen Schwerpunkte bekanntzugeben, und die Zeit für die Erzielung eines Konsenses sicher zu kurz war (wenn er überhaupt möglich gewesen wäre), wurde eine Abstimmung über diesen Punkt beschlossen. Er wurde mit etwa 6-8 Gegenstimmen, also über 80 % Zustimmung, angenommen.#
Peter Stepanek von der Wiener AL erklärte daraufhin, unter diesen Umständen könne er bei der gesamtösterreichischen AL nicht mehr mitarbeiten. Von einigen Seiten wurde dazu gemeint, daß ein gewisser Minimalkonsens eben vorhanden sein müsse und daß jemand, der sich nicht dazu bekennen könne, eben die Konsequenzen ziehen müsse. Andere – u.a. die Gäste aus Hamburg – kritisierten diesen ihrer Meinung nach undemokratischen Prozeß.
Rotation auch in Außenkontakten
Anschließend wurde über Personelles gesprochen, wobei ein Bedürfnis nach stärkerer Rotation in den Außenkontakten und Koordinationsfunktionen sichtbar wurde. Als „Pressesprecher“ für das Treffen wurden daher Walter Estl (Linz) und Erich Kitzmüller (Graz) bestimmt. Auch die provisorisch für die Koordination in den einzelnen Bundesländern Verantwortlichen wurden neu bestimmt. Das Fehlen einiger Bundesländer wurde als großes Problem empfunden; eine „Goodwilltour“ durch diese Länder wurde vorgeschlagen, es hat sich aber niemand konkret dazu bereit erklärt. Hoffentlich läßt sich dieses Problem noch durch Gespräche in der nächsten Zeit klären.
Peter Pritz stellte dann das Konzept des weiteren zeitlichen Ablaufes vor, wie ihn die Gruppe „Strategie“ erarbeitet hatte. Er wurde nach einigen Änderungen gebilligt (beschlossene Version siehe S. [?]). Für die Gruppe „interne Organisation“ stellte Walter Estl ein Basisgruppenmodell vor, das die Linzer schon seit Wochen diskutiert haben (Club Alternativ).
Vom Radio in die Küche
Bevor Gerhard Geissler, der ein Plakat mit den Namen und Adressen der vorläufigen Koordinatoren in den Bundesländern machte, die Ergebnisse der Gruppe „Inhalte“ zusammenfassen konnte, erstarb jede Diskussion, denn alles hing gebannt an den Radioapparaten, wo Walter Estl gerade telefonisch interviewt wurde. Danach kam es zu einem etwas ungeordneten Aufbruch in die Küche, was dazu führte, daß einige wichtige Punkte nicht mehr besprochen werden konnten. Der Eisenbahnfahrplan sorgte dann für eine schnelle endgültige Auflösung des Treffens. Wir wollen uns bei den Leuten vom Bauernhof in Oberbuch („Verein zur Förderung des schöpferischen Handwerks“) und bei den Linzern für die prima organisatorische Vorbereitung bedanken : es gab genug Sessel, genug zu essen (von der MOLI), Matratzen zum Schlafen und sogar (groß-teils) funktionierende Öfen. Für uns persönlich war es auch abgesehen vom inhaltlichen Resultat ein schönes Erlebnis.
Dan Jakubowicz – Gerhard Geissler
Gedächtnisprotokoll Arbeitskreis „Inhalte“
So.vorm.,G.Geissler
Der Arbeitskreis in einer Ecke des Plenarsaals bestand zuerst aus ca.10 Leuten, im Laufe der ca. 1 1/2 Stunden kamen einige dazu.
Am Anfang forderten z.B. Lois und Iwan eine deutliche Abgrenzung der Programminhalte gegenüber den Grünphrasen der Parlamentsparteien, weil wir nur dann die Chance hätten, nennenswerte Teile der dort Unzufriedenen herüberzuholen, aber natürlich auch Abgrenzungen gegen „braune“ Einschläge in Programmen mancher neugegründeter oder in Diskussion befindlicher grüner Gruppierungen. Außerdem sei grün allein natürlich zu wenig.
Dem wurde z.B. von Erich, Ilse und Gerhard entgegengehalten, daß eine entsprechende Klarheit unseres Programms eine zusätzliche Abgrenzung hoffentlich erübrigen wird, außerdem liege schon in unseren 4 Schlagworten „ökologisch, solidarisch, basisdemokratisch und gewaltfrei“ mehr als nur grünes Programm.
Robert z.B. forderte, daß sich die Programmarbeit ab sofort auf den „Baukasten“ von Erich Kitzmüller (Rundbrief Nr. 51) beziehen sollte, weil da viele Sachprogramme, die es schon – auch bei von uns unabhängigen Gruppen – gebe, leicht eingegliedert werden könnten,z.B. das politische Forderungsprogramm der Homosexuelleninitiative (HOSI), von der ja zwei zu unserem Treffen gekommen waren, Forderungen der „kritischen Medizin„, der „demokratischen Psychiatrie„, von Gruppen, die sich mit der Wohnsituation beschäftigen usw., aber natürlich müßten diese Gruppen erst gezielt angesprochen werden. Erich meinte, daß das „Fleisch“ des Programms die geforderte Form des Wirtschaftens bzw. der Arbeitswelt sein müsse und alles andere „spezielle Forderungen“ seien, die man nach Bedarf bzw.jeweiliger Möglichkeit oder eigener Kapazität in den Baukasten eingliedern könne. Wichtig wäre aber auch aufzuzeigen, wie wir uns die Bewußtseinsarbeit für eine neue Politik vorstellen, z.B. in der „Schule als Lebensentfaltung statt als Disziplinierung“, bei der Entwicklung eines neuen Gesundheitsbewußtseins usw. (Baukasten C)
Reduktion der „grünen Ideologie“
Peter z.B. forderte vehement eine Reduktion unserer „grünen Ideologie“ auf schwerpunktmäßige Aktionsprogramme, weil eine Ideologie als Mittel zur Integration möglichst vieler diskutabler Gruppierungen ungeeignet sei und immer den Mief des Schwammigen und Unklaren habe, wie sich ja schon im „entwurf eines entwurfs“ zeige.
Dem wurde von Erich und Gerhard z.B.entgegengehalten, daß der Entwurf ja nur ein geistiger Wegweiser für ein zu erstellendes Programm sei und der Hauptteil des Programms natürlich aus konkreten Forderungen, also einer Art Aktionsprogramm bestehen müsse.
Wie Dan am Tag zuvor betont habe, sei in der heute oft ausweglos scheinenden politisch-wirtschaftlichen Situation eine Art „Netz von zusammenhängenden Argumenten“ notwendig, damit über Konzepte zur Lösung einzelner Krisenfaktoren hinaus eine auch längerfristig tragfähige politisch-wirtschaftliche Perspektive entstünde und trotz Offenheit gegenüber zukünftigen Entwicklungen eine echte geistige Orientierung bzw.ein vertrauenbildendes inhaltliches Kontinuum möglich sei.
Karl z.B. meinte, daß man einen bereits durchdiskutierten Programmentwurf nur verwerfen könne, wenn man etwas an seiner Stelle zu bieten habe, außerdem gebe es ja auch noch keine zusammenhängenden Aktionsprogramme; z.T. weil komplizierte Problem-kreise wie umwelt- und sozialverträgliche Wirtschaftspolitik noch gar nicht kompetent durchdiskutiert seien, was wir aber in Form von z.B. einwöchigen Klausuren im Sommer geplant hätten. Wir sollten auch bisher von uns unabhängige Fachgruppen in der Alternativbewegung zu solchen Klausuren einladen. Auch unsere beiden Gäste aus Hamburg standen einer „grünen Ideologie“ skeptisch gegenüber und sagten, daß aus ihrer konkreten Erfahrung nur Vereinigungen verschiedener politisch alternativer Strömungen aufgrund punktueller Aktionsprogramme eine Chance hätten.
„Trivialprogramm“ für Presse und Straße
Robert und Gerhard z.B.forderten auf jeden Fall die Erarbeitung eines kurzen „Trivialprogrammes“ z.B. in Form eines gefalteten Flugblattes, das man sofort nach einer offiziellen Gründung an die Presse geben und für den „Mann von der Straße“ auf den Markt werfen könne. Konkrete Forderungen mit klaren Prioritäten und eine klare optische Gliederung sei hier das wichtigste.
Die Hamburger Gäste rieten auch, nach regional geführten inhaltlichen Diskussionen bei bundesweiten Treffen jeweils ein Diskussionsforum für die wichtigsten Programmschwerpunkte abzuhalten, mit Beratung einer Fachgruppe, bevor die Ergebnisse im Programm festgeschrieben würden. Vorweg müßte für die Koordinationsfähigkeit der regionalen Diskussionsergebnisse gesorgt werden, durch eine Art von Raster der inhaltlichen Themen. Der „Baukasten“ sei einerseits zu umfangreich, andererseits doch unvollständig.