9/366: Reminiszenzen eines „Basiswapplers“: Kritik für krawattenloses Erscheinen

Der Beitrag „Reminiszenzen eines ‚Basiswapplers‘. Grüne Urgeschichte: Als die Dolmetscher noch gratis arbeiteten und Hochbetten zur Büroausstattung gehörten“ erschien im November 1996 in der Broschüre „Die grüne Dekade 1986 – 1996. Ein Rückblick auf zehn Jahre Grüne im Parlament“, herausgegeben von der Grünen Alternative, der Grünen Bildungswerkstatt und dem Grünen Klub im Parlament. Der Verfasser Gerhard Jordan war von 1986 bis 1987 bei den Grünen ehrenamtlich in diversen Funktionen tätig. Von 1987 bis 2001 und ab 2010 ist er Wiener Bezirksrat. 1990/91 war er Internationaler Sekretär der Bundespartei und Vorstandsmitglied der Europäischen Grünen. Seit 1992 ist er Referent für Stadtplanung und Europapolitik im Wiener Rathausklub, seit Juli 2014 auch örtlicher Mitarbeiter der EU-Parlamentarierin Monika Vana.


Die Grüne Dekade. Ein Rückblick auf zehn Jahre Grüne im Parlament.
Die Grüne Dekade. Ein Rückblick auf zehn Jahre Grüne im Parlament.

//zitat// Zurückdenken an die „Pionier-Zeit“

Beim Zurückdenken an die „Pionierzeit“ der Grünen Alternative (1986 bis 88) steigen in mir Erinnerungen auf, die ein buntes und chaotisches Bild ergeben. Sie sind nicht dazu angetan, diese Zeit „heroisch“ (wie die Anfänge anderer, vor allem linker politischer Parteien) erscheinen zu lassen, sondern vermitteln einen liebenswert-kuriosen Eindruck aus der Zeit, als Professionalität noch nicht Mainstream war.

Europa-Ebene: Übernachten im Lagerraum

Die Koordination der europäischen Grünparteien existiert seit 1983/84, ab 1987 fuhr ich des öfteren als Delegierter nach Brüssel. Zum Zeitpunkt des Einzugs der Grünen Alternative 1986 waren erst in sechs Staaten Grünparteien in den nationalen Parlamenten vertreten.
Die Koordinationstreffen waren oft nur von 20 Menschen besucht (heute sind es zehnmal so viel), die DolmetscherInnen des Europaparlaments arbeiteten noch gratis für die kleinen, finanzschwachen Grünen; und der Höhepunkt der Treffen mündete meist in die Debatte, welche der zahlreichen winzigen, verfeindeten spanischen Grünparteien auf europäischer Ebene anerkannt werden soll.
Auch für ein Hotel fehlte das Geld – ich erinnere mich an eine frierende Übernachtung in einem lagerartigen Büroraum ohne Warmwasser irgendwo in Brüssel. Erst 1988/89 besserte sich die Lage.

Nationalratswahl 1986: Auf der Suche nach Publikum

Meine stärkste Erinnerung an den Wahlkampf ist ein Troß von kaum mehr als zehn Menschen, die von Günther Nennings Büro in der Museumstraße 5 ausschwärmten, von einer Veranstaltung zur nächsten zogen und dort auf Pressefotografen warteten. Diese zehn Personen waren meist das ganze Publikum. In den Straßen – sowohl mit Infoständen als auch mit Plakaten – waren vor allem die AktivistInnen der GAL (die linksalternative Wiener Gegenkandidatur) präsent, was sich aber im Wahlergebnis nicht auswirkte.

Wien: Büro zum Roten Hahn

Die Grüne Alternative Wien wurde in den ersten Monaten (1986/87) vor allem von AktivistInnen der „Gewerkschaftlichen Einheit“ getragen. Dank deren Verbindungen zogen die Wiener Grünen vorübergehend in die Räumlichkeiten der eurokommunistischen Zeitschrift TAGEBUCH in der Belvederegasse 10 ein. Meine alles überstrahlende Beobachtung aus dieser Zeit ist eine Gruppe rüstiger SeniorInnen, die, um einen Tisch versammelt, TAGEBUCH-Nummern zum Versand verpacken und aus vollem Hals „…drauf und dran, setzt auf’s Kirchendach den roten Hahn“ singen.

Bildungswerkstatt: Ein Bett für Nachtschichten

Die Grüne Bildungswerkstatt Wien entstand im Sommer 1987 und manifestierte ihr von vielen Partei-Grünen beargwöhntes „Eigenleben“ sogleich in der Anmietung eines eigenen Büros. Dieses Gassenlokal gegenüber der Rennweg-Kaserne war bald alles, nur kein Büro: Ein Hochbett diente als Stützpunkt für „Nachtschichten“, ein Hund belebte den Alltag, ein in einem 10 m2-Loch wohnender Altwaren-Sammler nutzte das Vorhandensein einer warmen Stube, um uns immer wieder seine Objekte zu zeigen, und gelegentlich verirrten sich auch InteressentInnen zu Veranstaltungen – mit 25 Leuten war der Raum allerdings fast überfüllt.
Der Anspruch, „Think-Tank“ der Grünen zu sein, konnte zumindest damals nicht eingelöst werden – Vorstandssitzungen befaßten sich zumeist mit Administrativem und mit Geldwünschen für nahezu alles und jedes.

Bezirksarbeit: 2000 Schilling in der Wahlkampfkasse

Grüne Bezirksgruppen waren 1987 noch eine Neuerscheinung, in Floridsdorf wurde sie im April gegründet. Als die spätere Bezirksrätin Flora Neuberger zu einer Sitzung ins Amtshaus als Zuhörerin ging, wurde sie mit „Ah, Sie sind die neue Bezirksrätin?“ begrüßt. Daß eine Bürgerin zur Bezirksvertretungssitzung zuhören kommt, war noch nie dagewesen. Das sollte sich später – zum Ärger der SPÖ – ändern. Bei meiner Angelobung war ich mit immerhin 27 Jahren der mit Abstand jüngste Bezirksrat aller Fraktionen, was einen Hinweis auf die damals noch vorherrschende Zusammensetzung gibt.
Auch mein krawattenloses Erscheinen stieß auf Kritik bis Verwunderung. Der Zuschuß der Wiener Grünen für ihre Bezirksgruppen im Wahlkampf 1987 betrug heiße 2.000 Schilling. Ihren ersten Postwurf finanzierten die Floridsdorfer AktivistInnen aus eigener Tasche. Die erste grüne Bezirkszeitung im Umfang eines A4-Blattes hatte eine Auflage von 400 Stück und wurde noch im Jutesack zur Aufgabe am Westbahnhof transportiert.
Unsere Mittwochsitzungen im Stüberl eines Wirtshauses waren bisweilen in Hörweite biertrinkender Fußball-TV-Fans, die bei jedem Tor unsere Grün-Veranstaltungen locker übergrölten. Wer sich als „Grüne/r“ deklarierte, wurde vor allem in den Arbeiterbezirken zumeist schief angesehen.

Arbeitsbedingungen: Fax-loses Zeitalter

Computer gab es in kaum einem Büro, Flugblätter wurden layoutiert, indem maschinegeschriebene Texte zerschnipselt und mit den Grafiken mittels Uhu-Stick aufgeklebt wurden. Bundesgeschäftsführer Pius Strobl sollte Jahre brauchen, um alle Länderbüros von der Notwendigkeit eines Faxgerätes zu überzeugen. Das „Internet“-Zeitalter war noch Lichtjahre entfernt. Neben dem persönlichen Gespräch waren Brief und Telefon die wichtigsten Kommunikationsmittel.
Durch neue Technologien und eine unvergleichlich effiziente Infrastruktur ist es heute möglich, auch mit Großparteien besser mitzuhalten. Der Wermutstropfen ist, daß es anscheinend schwieriger geworden ist, Menschen zu ehrenamtlicher Mitarbeit zu gewinnen. In der Anfangszeit hatten die Grünen außer Mühe und gelegentlichen Erfolgserlebnissen noch nicht viel anzubieten… //zitatende//

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