Die Grüne Bildungswerkstatt mit ihren Ländervereinen wurde 1987 gegründet. Die GBW Vorarlberg zog nach einem Jahr Bilanz – mit einem Rückblick auf die ersten Veranstaltungen und mit Beiträgen über politische Bildungsarbeit. Der Text „Die Instrumente haben wir ja — nur die Musikstücke fehlen“ von Wolfgang Maurer, Gernot Egger und Ingrid Bertel ist auch nach 28 Jahren eine spannende und aktuelle Lektüre.
//zitat// Kennzeichnend für die Entstehung der Grünbewegung in den späten siebziger Jahren ist das Brüchigwerden der konservativen, liberalen und marxistischen Weltbilder. Die neuen sozialen und politischen Bewegungen kritisieren an den übernommenen Theorieentwürfen deren mechanistisches Denken, das die Natur- und Gesellschaftswissenschaften ebenso wie die Medizin und die Volkswirtschaft auf ein falsches Fortschrittsideal verpflichtet habe. Mit dem Abebben der Impulse, die von der Studentenbewegung ausgegangen waren, entpuppten sich nicht nur gewisse Veränderungsansprüche als illusorisch, sondern es stellte sich nun immer deutlicher heraus, daß auch sozialdemokratische, sozialistische und marxistische Ansätze einem Wachstumsdenken verpflichtet sind, das es möglich macht, mechanistische Denkmodelle in Beton zu gießen.
Die Enttäuschung darüber, daß es auch den „fortschrittlichen“ Theoriemodellen und der daraus abgeleiteten Praxis nicht gelungen ist, die fortschreitende Entfremdung der Menschen aufzuheben und die Zerstörung der Natur einzubremsen, führte viele zu einer Kritik am neuzeitlichen Rationalitätsbegriff überhaupt. Und so begann die Suche nach dem ganzheitlichen Denken, die die einen zu den Frühsozialisten, andere zu indianischen Kulturen, zum Schamanismus bzw. zu fernöstlichem Denken führte. Die gewaltsame Vereinnahmung dieser Traditionen, ohne auf die historische Differenz zwischen deren Entstehungszeit und dem Entwicklungsstand einer modernen Gesellschaft Rücksicht zu nehmen, ließ manche in schlichten Okkultismus abgleiten. Das Bild ist verwirrend. Die politische Praxis der Grünen fällt entsprechend chaotisch und uneinheitlich aus. Eine brauchbare Synthese ist nicht in Sicht, viel eher die Gefahr, durch eine allzu rückwärtsgewandte Suche das gewonnene aufklärerische Terrain wieder zu verlieren. Eine produktive Form, auf die Mangelhaftigkeit übergreifender theoretischer Entwürfe zu reagieren, bestand darin, sich in der regionalen „Realpolitik“ zu profilieren; die Bürgerinitiative als politische Organisationsform benötigt keinen umfassenden theoretischen Überbau — aber auch diese Form des politischen Handelns weist grundlegende Schwächen auf, von denen hier nur einige angedeutet werden sollen: Erstens ist es schwierig, eine Dauermobilisierung von Betroffenen zu erreichen, außerdem besteht die Gefahr, daß „kritische“ Projekte in Regionen verlagert werden, wo weniger Widerstände zu erwarten sind; zweitens gibt es einen großen Bereich von überregionalen politischen Zusammenhängen, der kaum von Bürgerinitiativen thematisiert werden kann.
Als die Vorarlberger Grünen einige Sitze in den Gemeinderäten und im Landtag erobert hatten, fanden sie sich in einer ideologischen Landschaft wieder, die geprägt war von einer jahrzehntelangen Vorherrschaft der ÖVP und ihrer Verklärung des „Ländles“ als eines bäuerlich-konservativen Lebensraums einerseits, und einer sozialdemokratischen Opposition andererseits, deren Fortschrittsideal zum Aufziehen „alternativer“ Betonklötze verkommen war.
Das Unbehagen über die Differenz zwischen der offiziellen Ideologie und der tatsächlichen Entwicklung ist zunächst bei einer durch ihre Bildung privilegierten kulturellen „Elite“ entstanden; es wächst aber auch bei den Bergbauern im Großen Walsertal oder im Bregenzerwald, die erleben, wie der Massentourismus ihren Lebensbereich radikal verändert. Es wächst bei den Eisenbahnern, die das Klostertal zur Transitroute für LKWs verkommen sehen. Und es wächst bei den Dornbirner Bürgern, die erleben müssen, wie eine dreispurige Straßenschneise mitten durch bisher stille Viertel geschlagen wird. Breite Kreise der Bevölkerung nehmen so ein immer stärkeres Auseinanderklaffen der landesoffiziellen Kosmetik mit ihrer täglichen Realität wahr. Das idyllische Musterländle der Vorarlberg-Ideologen entpuppt sich als radikal modernisierte, rücksichtslos einplanierte Landschaft, deren labiles Gleichgewicht längst ebenso offensichtlich gestört ist, wie es die Sozialbeziehung der hier lebenden Menschen sind, wofür die in den letzten Jahren deutlich zunehmenden psychischen Erkrankungen und die unheimlich hohe Selbstmordrate drastische Belege sind. Wenn Vorarlberg heute dennoch zum Teil der Charakter eines harmonischen Lebensraumes anhaftet, so hängt dies sicherlich damit zusammen, daß dieser Prozeß der gewaltsamen Modernisierung unreflektiert, d.h. quasi naturwüchsig ablief, wodurch den Menschen die Möglichkeit genommen wurde, rational und gefühlsmäßig Stellung zu beziehen. Das fast vollständige Fehlen einer liberalen Kultur und einer wirklich demokratischen Tradition sind die wohl offensichtlichsten Belege dafür.
Ernst Bloch definiert Provinz als einen Raum, in dem kulturelle Elemente aus verschiedenen Epochen, wenn auch verschüttet, lebendig sind. Dies könnte für uns bedeuten, nach Resten einer ungleichzeitigen Kultur zu suchen, die zum Angelpunkt einer kritischen Bildungsarbeit werden müßten.
Die Bergbauern in den Alpentälern haben im Verlauf von Jahrhunderten, basierend auf genauer Beobachtung der Natur, eine Lebensweise entwickelt, die eine Verödung der alpinen Täler verhindert hat. Seit 1945, seit dem Niedergang dieser Wirtschaftsweise, der „Erschließung“ des Alpenraums für den Massentourismus, dem Aufbau der Industrie, dem Überhandnehmen des Verkehrs drohen verstärkt Naturkatastrophen — die Unbewohnbarkeit des Alpenraums ist nicht mehr nur eine Vision finsterer Phantasten.
Das ungebremste Hinwegschreiten über jede Tradition hat sich als Sackgasse erwiesen. Warum also nicht Besinnung auf Nischen, auf Reservate ökologischen Wirtschaftens? Wir dürfen dabei nur nicht in den Fehler verfallen, den unter umgekehrten Vorzeichen die Konservativen in diesem Land begangen haben: Wo sie traditionalistische Ideen mit technokratischer Wirtschaftsweise verbanden, sollten wir nicht traditionalistische Wirtschaftsweisen mit okkulten Ideen verknüpfen.
Die alpine Wirtschaftsweise hat in jahrhundertelanger Entwicklung ein Zeitmaß gefunden, das den Wachstums- und Reifungsprozessen in der Natur angepaßt war. Auch wenn es in der Vergangenheit ökologische Fehlentwicklungen gegeben hat (z.B. das Abholzen der Hochwälder durch die Walser), so haben gerade die Ungeduld heutigen Wirtschaftens, die mangelnde Rücksichtnahme auf „natürliche“ Zeit, der überall anzutreffende Versuch zur Beschleunigung der Zeit die größten Zerstörungen hervorgerufen. Bei der Besinnung auf ausgewogene Wirtschaftsweisen geht es weniger um deren einfache Imitation (die ja jeden Fortschritt ignorieren würde), sondern eher darum, Natur als ein Umfeld zu sehen und zu bearbeiten, mit dem ein (unter anderem zeitliches) Gleichgewicht anzustreben ist. Mit anderen Worten: verschüttetes Wissen wiederzubeleben bedeutet, dieses Wissen nicht mehr auszugrenzen, wie das die europäische Naturwissenschaft seit ihrer Entstehung getan hat.
Jede Idealisierung dörflicher Verhältnisse wäre aber unrealistisch: Die Herrschaft des Zentrums hat sich im hintersten Winkel der letzten Bauernstube längst ausgewirkt; Blasmusikkapellen spielen die Melodien aus „Dallas“ und „Denver Clan“; es hat sich eine Art blödsinniger Wiederbelebung der „Tradition“ für den Fremdenverkehr ausgebildet, deren größtes Übel darin besteht, daß nur allzuviele Einheimische geneigt sind, die rot-weiß karierten Hemden für echte Folklore zu halten.
Es muß ein wesentlicher Aspekt von Bildungsarbeit sein, an den noch vorhandenen Traditionen anzuknüpfen und ihre Verfälschungen als solche kenntlich zu machen. Das bedeutet, gerade den ideologischen Konservatismus zu kritisieren: Er hat alpine Traditionen zum Heimatabend-Kitsch verkommen lassen und den industriellen Schleiflacktraditionalismus erfunden. Er verteidigt aber auch ein zur Enge und Sprachlosigkeit erstarrtes Sozialverhalten in den Dörfern, das mit einer fortschreitenden Demokratisierung von Kultur und Wissen nicht mehr zu vereinbaren ist. Bei aller Zerstörung traditioneller Lebensformen unter dem Mäntelchen ihrer angeblichen Wiederbelebung ist eines den Ländle-Ideologen immer zupaß gekommen: Die Enge dörflicher Verhältnisse, das Dunkelmännertum, das schon Felder [Franz Michael Felder, Anm.] vertrieben hat, lassen sich auch heute trefflich instrumentalisieren, wenn man in der vielzitierten Demokratie die Herrschaft einer kleinen Elite wahren will.
Notwendig ist demnach vor allem, die Sprachlosigkeit unserer politischen Kultur zu ersetzen durch rationalen Diskurs, diesen auszuweiten auf bisher Ausgegrenztes und Vergessenes, dabei auch den Vorwurf des „Irrationalismus“ nicht zu scheuen. Dies bietet auch die Chance, der zur Weltanschauung erhobenen Beliebigkeit historisierender Theorieansätze („Postmoderne“) wie dem zynischen Vermarkten jedweden alternativen Ansatzes im Zeichen des „New Age“ eine Schranke zu setzen. Wir meinen auch, daß der kritische Rationalismus sich gerade in unserer Region verbinden müßte mit einer Tradition marxistischen Denkens, nämlich jener, den Menschen als soziales Wesen zu begreifen und die sozialen Strukturen, in denen er existiert, human zu gestalten — nicht in einem fernen sozialistischen Paradies, sondern subito. Aus vergangenen Organisations- und Lebensformen gerade der politischen Linken läßt sich lernen, daß alternatives Leben und Kommunizieren nicht nur als vages Ziel betrachtet werden darf, sondern in den Alltag und in die politische Praxis eingehen muß. Bildungsarbeit bedeutet dann den Versuch eines gemeinsamen, solidarischen, auch mit der Natur Einklang anstrebenden Lernprozesses ohne Streß und Leistungszwang. //zitatende//