Was wäre heute anders, wenn 2002 eine schwarz-grüne Koalition auf Bundesebene zustandegekommen wäre? Diesen Fragen ging die Julius-Raab-Stiftung 2013 im Sammelband „10 Jahre schwarz-grün. Eine Spekulation“ nach. Politiker_innen von ÖVP und Grünen sowie Journalist_innen überlegten, wie eine spekulative Bilanz von zehn Jahren Schwarz-Grün aussehen könnte.
Mit freundlicher Genehmigung der Julius-Raab-Stiftung veröffentlichen wir im Blog den Beitrag „Die doppelte Wende. Eine spekulative schwarz-grüne Bilanz aus Sicht eines ehemaligen Schwarz-Grün-Aktivisten“ von Michael Schuster. Schuster gründete gemeinsam mit Astrid Dolak, Beate Meinl und Alex Lenz die Initiative „schwarzgruen.org„, die die Öffentlichkeit auf die – damals schwer vorstellbare – Möglichkeit einer schwarz-grünen Koalition hinweisen sollte, und war einer Mitbegründer von Neos.
// Wer hätte das Ende 2002 gedacht, dass Wolfgang Schüssel zu so einer Wandlung fähig ist? Er, der seinerzeit das Tabu gebrochen und die „Haider“-FPÖ politisch salonfähig gemacht hatte, zeigte in der Regierung Schüssel II eine gänzlich andere, unerwartete Facette seiner Persönlichkeit. Ein Umstand, der den Ruf nach Brüssel in die Europäische Kommission im Nachhinein nur allzu verständlich macht. Aber gehen wir zurück an den Anfang, den Beginn einer Epoche, die in die Geschichtsbüchern Österreichs nachhaltig Eingang finden wird.
Ein neuer Kanzler
Kaum jemand hatte es im Herbst 2002 für möglich gehalten, dass die frühzeitig abgehaltene Wahl nach dem Sturz von Knittelfeld eine solche Möglichkeit bringen würde. Schwarz-Grün war möglich geworden, und wir waren seinerzeit unter den Utopisten, die ein solches „Experiment“ abseits seines Charmes auch realpolitisch für den richtigen Weg nach der schmerzhaften Erfahrung des ersten schwarz-blauen Versuchs hielten. Wir sammelten Unterschriften, machten Stimmung, versuchten die Vernetzung, und als die Gespräche nach anfänglichem Zögern der Grünen endlich aufgenommen wurden, keimte die Hoffnung, das könne „sich ausgehen“. Ohne Zweifel, die Ausgangspositionen in einzelnen Bereichen hätten unterschiedlicher nicht sein können, doch der Wille auf beiden Seiten war – auch durch die Erfahrungen mit der FPÖ, die nicht an allen in der ÖVP spurlos vorübergingen – groß.
Es schien fast, als gäbe es ein Aufatmen ob der Fachkompetenz und Erfahrung der Grünen in den Reihen der ÖVP, nach den Mühen, die man mit politisch unerfahrenen Ministern, ohne Sachkompetenz und mit zweifelhaftem Führungsstil, gehabt hatte.
Zentrales Thema in den Verhandlungen, die anfangs noch als Sondierungsgespräche abgeschwächt werden mussten, waren natürlich die Eurofighter, deren Stellenwert nicht unterschätzt werden konnte, auch wenn sie für die reale Verfassung des Landes irrelevant gewesen sein mochten. Aber sie waren politischer Wegzoll, ein Symbol mit hohem Potenzial, und daher bleibt es auch unklar, warum Schüssel gerade in dieser Angelegenheit Anfang 2003 eine Wende einleitete, die die Koalition erst möglich machte. Vielleicht kamen ihm manche Teile der Beschaffung zu diesem Zeitpunkt bereits selbst komisch vor oder er hatte die Dimension der Möglichkeiten mit den Grünen erkannt und die Kampfjets dafür aufgegeben. Es war kein sofortiger Ausstieg, den er im Jänner 2013 in den Verhandlungen anbot, sondern eine Schwerpunktprüfung des Rechnungshofes zusammen mit einer Redimensionierung der Gesamtbeschaffung und dem klaren politischen Versprechen, dass bei dem ersten Anschein von Ungereimtheiten im Beschaffungsvorgang der Vertrag rückabgewickelt würde.
Es schien, als wäre Wolfgang Schüssel über den Jahreswechsel ein neuer Kanzler geworden. Christoph Chorherr, aus seiner Vergangenheit im Wirtschaftsbund ein Kenner der Person Schüssel, war wohl genauso überrascht wie seine Parteikollegen, diese deutliche Bewegung in einer der zentralen Positionen hatten sie nicht erwartet. Die weiteren Punkte sollten sich daher deutlich einfacher gestalten, von einem ökologisierten Steuersystem über stärkere Förderung von Umweltmaßnahmen, viele Gemeinsamkeiten wurden als Ziel definiert. So entstand das Koalitionsübereinkommen, das am 16. Februar 2003 der Öffentlichkeit präsentiert und auch auf europäischer Ebene mit viel Beachtung beobachtet wurde, hatte man doch die Bilder der Weisenkommission und die Diskussion rund um die Sanktionen noch gut im Gedächtnis. Die Regierung Schüssel II schritt überirdisch zur Angelobung über den Ballhausplatz, obwohl das Wetter trüb, kalt und etwas eisig war. Kurt Grünewald rutschte auf dem Weg zu Heinz Fischer fast aus, ein Umstand, der in den Zeitungen als Symbol für das Beinahe-Scheitern verwendet wurde, hatten doch alle politischen Auguren mit Sicherheit angenommen, es würde eine Neuauflage von Schwarz-Blau geben. Doch Schüssel hatte, wieder einmal, alle überrascht.
Alte Bande
Es überraschte auch die Zusammensetzung der Regierung, waren doch neben bekannten Gesichtern einige Neulinge dabei. Dass Alexander Van der Bellen zusammen mit dem Amt des Vizekanzlers auch jenes des Außenministers übernehmen würde, war schnell klar. Auch Eva Glawischnig für Umwelt, Land- und Forstwirtschaft lag auf der Hand. Dass der junge Alfred [Albert, Anm.] Steinhauser Justizminister werden würde, überraschte, auch mit Gabriela Moser für Verkehr, Infrastruktur und Technologie hatten nur wenige gerechnet. Ernst Strasser wurde dank niederösterreichischer Verbindungen Innenminister, musste aber Terezija Stoisits als Integrationsstaatssekretärin verkraften, Günther Platter übernahm die Landesverteidigung. Die Regierung wurde verkleinert, was nur wenige Staatssekretariate bedeutete: Josef Pröll führte zusammen mit Werner Kogler das Finanzressort, beide wurden oft als Zukunftshoffnungen ihrer Parteien bezeichnet und die zentrale Position von Pröll war wohl auch im Hinblick auf die Zeit nach Schüssel kein Zufall.
In einer schwarz-grünen Regierung war Pröll mit seinem gesellschaftsliberalen Kurs ein nahezu idealer Querverbinder, Kogler genoss hingegen das Vertrauen der grünen Basis und war daher nahezu ideal, um im wichtigen Finanzressort die zentralen Linien des Budgets mitzuentwickeln.
Elisabeth Gehrer blieb die Konstante, Christoph Chorherr ergänzte erstmals das Bildungsressort als Staatssekretär und sollte sich dort verstärkt um Innovationen im Bildungsbereich bemühen. Maria Rauch-Kallat blieb ebenfalls an Schüssels Seite und übernahm mit Kurt Grünewald das Gesundheitsressort. Martin Bartenstein behielt das Wirtschaftsressort, Karl Öllinger bildete im Sozialministerium das Gegengewicht. Es erfreute viele im Land, in einer Regierung erstaunlich viel Sachkompetenz versammelt zu finden, ein deutlich sichtbarer Wandel, auch wenn es um die politische Kultur ging.
Kulturwandel
Viele hätten Peter Pilz gerne in einer Regierung gesehen, dieser übernahm jedoch mit Andreas Khol aufseiten der ÖVP eine wichtige Funktion. Die streitbaren Herren waren so etwas wie das politische Gewissen und der intellektuelle Überbau dieser Koalition. In ihren legendär gewordenen politischen Salons einmal im Monat, diskutierten sie politische Fragen und Leitlinien in einer lang vermissten Liebe zum Argument und zum Detail. Nicht einmal fiel der Vergleich mit Waldorf und Statler aus Jim Hensons „Muppet Show“ und er war wohl auch berechtigt. Doch die Lust am Diskurs erlebte eine neue Konjunktur in dieser Regierung, und der Beitrag Einzelner dazu kann nicht hoch genug geschätzt werden.
Die Demokratie an sich profitierte. Es war, als ging ein Aufatmen durch die Reihen jener politisch Interessierten, nach trockenen Jahren, in denen Ideologie zum Fremdwort, Stil als Beiwerk deklariert und Diskurs erst lieber gar nicht begonnen wurde. Es war keine Koalition, die sich aufs Marketing verstand, sondern eine, die sich auf das Gespräch verstand. Sehr zum Missfallen der Opposition, die mit der überraschenden Einigkeit nicht viel anfangen konnte. Es schien so, als hätten ÖVP und Grüne richtig Spaß an der gemeinsamen Arbeit, bei allen Mühen, aber dieser Spaß sprang wie ein Funke auf die Bevölkerung über, ohne gleich Freudenfeuerwerke zu entfachen, aber doch, um eine zarte Flamme der politischen Kultur zu entfachen, die während Schwarz-Blau ausgegangen war. Es war eine Koalition der beiden innovationsfähigsten, konstruktivsten Kräfte im Lande – und dieser Fakt war vielleicht nicht messbar, aber spürbar.
Erhard Busek war, als Allegorie von Schwarz-Grün, so etwas wie der Stichwortgeber für die Koalition, manchmal hart im Ton, doch immer gern gehört, denn er hatte dank der langen Jahre in der Politik das richtige Gespür für alle Beteiligten, ganz besonders Wolfgang Schüssel. Vielleicht war es die neu erwachte Achse Busek – Schüssel, die Zweiteren zu einem Karrierewechsel nach Brüssel bewegte, es war jedenfalls der klare Pro-Europa-Kurs, der von beiden Koalitionspartnern verfolgt wurde, der Österreich ein Stück näher an Europa rückte und auch die letzten Skeptiker von Schüssel in Brüssel überzeugte. Dies wurde auch durch das klare Bekenntnis zu einem Berufsheer und die begonnene Einführung desselben untermauert, da man eine europäische Verteidigungspolitik für den richtigen Weg hielt.
Unter einem anderen Stern
Es war der Knalleffekt des späten Jahres 2004 und hatte sich spätestens seit Sommer abgezeichnet: Schüssel wurde von José Manuel Barroso in die EU-Kommission berufen und verließ damit das österreichische Parkett. Nachdem Franz Fischler als Kommissar abgedankt hatte, wurde der Weg für einen neuen Österreicher in der Kommission frei und Barrosos Wahl fiel auf Schüssel, vielleicht auch als späte Wiedergutmachung gegenüber Österreich für die Sanktionen rund um die Jahrtausendwende. Schüssel übernahm das Ressort für Außenbeziehungen, das dem vielseitigen Politiker wie auf den Leib geschneidert zu sein schien.
In Wien wurde damit eine Regierungsumbildung nötig, die bereits gut vorbereitet war: Josef Pröll übernahm das Kanzleramt, Kogler wurde Finanzminister, Strasser wurde elegant von seinem Amt entbunden, stattdessen Liese Prokop als Innenministerin angelobt. Für Schüssel sollte dies der Beginn einer fruchtbaren Zeit in der Weltpolitik werden, die das Gesicht Österreichs in der Welt deutlich veränderte und getrost als Zwischenerfolg für die deutliche Pro-Europa-Politik gewertet werden konnte.
Für die Opposition waren all jene Ereignisse neben den üblichen Querelen nur schlecht als politisches Kapital nutzbar. Auch wenn sich der rechte Rand weiter in der Rolle der Europaskeptiker gefiel, so konnte man wenig gegen die Berufung eines Österreichers sagen, die kleinen Flanken in puncto Ökologie und Nachhaltigkeit, die die Regierung bot, waren undankbar, und die Arbeit von Öllinger im Sozialressort in enger Abstimmung mit der Integrationsstaatssekretärin Terezija Stoisits veränderte die Wahrnehmung des Integrationsthemas drastisch. Die SPÖ war insgesamt ins Wanken geraten, man hatte Orientierungsprobleme, da die Politik von FPÖ/BZÖ zum Verwechseln ähnlich der eigenen war, eine charismatische Führungsfigur fehlte. Das machte sich auch im Wahlergebnis der Nationalratswahl von 2007 bemerkbar, die zwar keine so deutliche ÖVP-Mehrheit mehr brachte, aber dennoch eine zweite Periode Schwarz-Grün ermöglichen sollte.
Wer die Wahl hat
Schüssel half tatkräftig mit im Wahlkampf, doch es war eher das Duo Pröll-Glawischnig, die im Wahlkampf in fast schon erschreckender Konstruktivität die Argumente austauschten und damit überzeugten. Die Politik und der Stil in Österreich hatten sich gewandelt. Es war Außenstehenden wie Parteimitgliedern beider Seiten klar, dass diese Koalition eine Verlängerung verdient hatte.
Die ÖVP blieb klar stimmenstärkste Partei, die Grünen lieferten das beste Ergebnis ihrer Parteigeschichte und obwohl die ÖVP mit der starken Ausgangssituation alle Möglichkeiten, auch mit SPÖ oder BZÖ offen hatte, kam es zur Regierung Pröll II, mit Eva Glawischnig als Vizekanzlerin. Alexander Van der Bellen hatte aus Gesundheitsgründen und Parteiräson beschlossen, sich zurückzuziehen und blieb Außenminister. Die Regierung blieb überraschend stabil, bis auf den Abgang von Strasser und den tragischen Tod von Prokop sowie die verdiente Pension von Elisabeth Gehrer, die auch von den zunehmend ungeduldigen Grünen beschleunigt wurde, blieben beinahe alle Mitglieder erhalten.
Die zweite Amtsperiode sollte einige der Früchte bringen, deren Samen man in der ersten Periode gesät hatte, doch die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise machte viele Unterfangen schwerer. Teile der ökologischen Steuerreform mussten kurzfristig ausgesetzt werden, aber der Handlungsspielraum blieb insgesamt begrenzt. Auch hier sollten sich die Sachlichkeit und der neue Stil, den Schwarz-Grün ins Land gebracht hatte, auszahlen.
Im Salon des Krämers
Als wir 2002 unseren Sammelband zum Thema der Ökosozialen Wende [Die ökosoziale Wende? Perspektiven und Horizonte einer schwarz-grünen Politik, im Grünen Archiv vorhanden, Anm.] veröffentlichten, war völlig unklar, dass einiges davon zehn Jahre danach Realität sein würde. Martin Haidinger von Ö1 hatte die Koalition als eine Allianz des Krämers und der Bürgerkinder bezeichnet, und er sollte recht behalten: Die Grünen erwiesen sich als die besseren Sozialdemokraten, weil sie sachlicher, entschlossener und ohne verstaubtes Inventar eine sozial gerechte Politik machen konnten. Die ÖVP fand angesichts der Intellektuellen und ideologischen Reibung zu ihrer alten Stärke zurück, konnte prononciert Wirtschaftspolitik betreiben und den europäischen Gedanken gemeinsam mit den Grünen forcieren, da sie endlich nicht mehr die unter „Krone“-Diktat stehende SPÖ als Widerpart ertragen musste, die aus Angst vor den eigenen Senioren zu einem deutlichen Pro-Europa-Kurs unfähig schien.
Die idealistischen, gebildeten Bürgerlichen behielten recht, denn der konstruktive, gemäßigte Teil, der bei den Grünen in der Mehrzahl ist, machte vernünftige Politik möglich. Die Grünen erlebten die positiven Effekte einer Regierungszusammenarbeit und fanden Spaß an der Gestaltung, da die Partei nun einmal eine gestalterische, konstruktive Kraft ist, die gelernt hat, in der Opposition zu überleben, aber andere Qualitäten hat.
Und Österreich? Hat sich entwickelt. Von einer lahmenden Republik der ewig Fürchtenden zu einem Land, in dem vieles bewegt wird, vieles diskutiert wird und ein neuer politischer Stil zur Belebung der Demokratie beigetragen hat.
Hier endet er – der Wunschtraum, die Utopie, die Spekulation. Ein Entwurf eines alternativen Österreichs, das so nicht mehr möglich scheint und das Gefühl hinterlässt, dass hier eine einmalige Chance verloren gegangen ist. Es wäre gut gewesen, es wäre ein neues Österreich gewesen. Vielleicht. //
Am 2. Juli 2016 haben wir den Beitrag „Eine vertane Chance? Über die Argumente der ‚Initiative schwarzgrün‘ aus dem Jahr 2004 für das Projekt einer schwarz-grünen Politik – und ihre Relevanz für heute“ von Josef Riegler aus demselben Buch veröffentlicht.