„Wiedergefunden auf Zeit. Neue Briefe aus der verlorenen Nachbarschaft samt Dankreden, Laudationes und einer Würdigung dreier Wienerinnen, die in New York die Shoa überlebten“ wurde von Thierry Elsen, Ingrid Popper und Werner Rotter in Zusammenarbeit mit der Grünen Bildungswerkstatt Wien herausgegeben und ist im Jahr 2000 bei Mandelbaum erschienen. Das Buch dokumentiert das Projekt „Verlorene Nachbarschaft“ aus Wien, gibt die Laudatio anlässlich der Verleihung der Friedrich-Torberg-Medaille an die Initiator_innen und die Dankesworte wieder und enthält den Briefwechsel mit einigen Menschen, die aus Wien vertrieben wurden.
Im Projekt „Verlorene Nachbarschaft“ wurde die 1938 stark beschädigte bzw. 1940 zerstörte Synagoge in der Neudeggergasse 12 für sechs Wochen „wiedererrichtet“ – als Bild auf einer Folie, die auf dem heute an dieser Stelle stehenden Gemeindebau befestigt wurde:
Eine Schutzhaut, die man mitnehmen kann
// Vor der Synagoge stand ein Zelt, ein flüchtiger Ort, eine Schutzhaut, die man mitnehmen kann. Es ist ein Ort des Kommens und Gehens. Ein Ort des Wortes. Menschen, die früher einmal hier lebten, haben wir eingeladen, zu uns zu kommen, in das Zelt und zu erzählen von früher, als sie noch unsere Nachbarn waren. Manche haben wir besucht und ihre Erinnerungen auf Video aufgenommen. Und wir wollten Nachbarinnen und Nachbarn aus dem Bezirk einladen, ihre Erinnerungen mit-zu-teilen… einer des anderen Nachbar…“ // (Quelle)
Geleitwort von Mercedes Echerer
Hier ein Auszug aus dem Geleitwort von Mercedes Echerer, zu dieser Zeit grüne Europaabgeordnete und Schauspielerin, die den literarischen Abend „Assimilationen“ im Rahmen des Projekts mitgestaltet hatte.
//zitat// Die Summe aller Teile ergibt noch kein Ganzes. Die kleinsten Regionen, puzzleartig zusammengesetzt, selbst wenn alle penibel vollständig erfasst sind, ergeben noch lange kein Europa. Gerade die Aufmerksamkeit auf den Mikrokosmos rund um die ehemalige Synagoge in der Neudeggergasse verwies mit der Wiedererrichtung der Fassade auf den Verlust von Religion und Kultur des Wiener Judentums.
Die ausgeschürften Bergwerke, die niedergerissenen und wiedererbauten Stadtviertel, die zerstörten Landschaften und vor allem die Adressenverzeichnisse der Jahre bis 1938 dokumentieren die vielen Aspekte eines Kontinents, dessen Verluste nicht durch die gemeinsamen wirtschaftlichen Anstrengungen ersetzt werden können. Versuche, die auselaugte Substanz der Gegenwart zu übertünchen, schlagen gerade darum fehl, weil die Farben der verlorenen Qualitäten die größtenteils farblose und entseelte Sprache der modernen Politik unweigerlich durchbrechen.
Das Denken in kleinen Regionen hat gerade wegen seines immanenten Willens zur Beschränktheit geradezu europäische Dimension. Dieses regionale Denken birgt jedoch in sich die Chance, die europäischen Binnengrenzen auf der Landkarte und in den Köpfen zu überwinden. Genau in diesem Zusammenhang wird deutlich, was in Europa jedoch noch fehlt. Es ist die gemeinsame kulturelle Identität, geboren aus den Aufklärungen in Europa, deren minimalster Standard die permanente Verbesserung der Individualrechte wäre. Erst wenn dieser Konsens erreicht ist, kann das Ganze mehr sein als die Summe aller Teile. Als Heimatlose irrte ich in Mitteleuropa umher und suchte ein Nest in der europäischen Literatur und wurde auch in der Haskala, der jüdischen Aufklärung, fündig. Sie ist die einzige Aufklärung, die keinen Nationalismus kennt. //zitatende//